Michael Lorenz

Marion Fürst: Maria Theresia Paradis (= Europäische Komponistinnen, herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Bd. 4). – Köln: Böhlau 2005 (ISBN-10: 3-412-19505-7), 405 und (1) Seiten.

 

Schon vor Beginn des Mozart-Jahres 2006 unterstrich diese Publikation, die einer der bedeutendsten musikalischen Zeitgenossinnen Mozarts gewidmet ist, das zunehmende Interesse an Frauengestalten aus Mozarts Umfeld. Eine große Menge der Paradis-Quellen, die bei dieser Musikerin relativ reichlich vorhanden sind, wurde erfasst und ausgewertet und Marion Fürst bemühte sich, jenen Weg zu beschreiten, den sie im Vorwort ihres Buches entschlossen vorgibt: "Das oft mühsame Aufspüren der Quellen allein ist erst ein Anfang, auf den die noch schwierigere Aufgabe der Auslegung und Interpretation folgt." und: "Keine Biographie, keine Beschäftigung mit dem Werk ohne vorherige genaue Quellenkenntnis." (S. 2f.) Das Thema Paradis bot sich als Buchprojekt an, da mit dem Stammbuch dieser Musikerin eine Schlüsselquelle erhalten ist und ihre Biographie bereits von Hermann Ullrich (1888–1982) in vielen Details erforscht wurde. Ullrich, der im Hauptberuf zweiter Präsident des Obersten Gerichtshofs war und neben seiner Tätigkeit als Musikkritiker und Komponist die Wissenschaft nur als Hobby betrieb, publizierte zwischen 1946 und 1978 mehr als zwei Dutzend Aufsätze über Paradis, die auf faszinierende Weise die Zunahme seines Wissensstandes dokumentieren. Wie auch in seinen anderen Arbeiten zu Themen der Wiener Musikgeschichte hinterließ Ullrich jedoch ein work in progress und es ist zu bedauern, dass er nicht mehr die Zeit fand, seine Forschung zu Paradis in einem Buch zusammenzufassen. Marion Fürst war sich durchaus der Verpflichtung bewusst, zur Legitimation ihrer Arbeit Ullrichs Leistung übertreffen zu müssen und sie spart in der Einleitung ihres Buches auch nicht mit Kritik an ihrem Vorgänger: "Hinzu kommt, dass Ullrich eine Ungenauigkeit der Quellenangabe pflegt, die das Aufspüren seiner bereits erschlossenen Dokumente zur neuerlichen Odyssee werden lässt." (S. 12) Diese Aussage trägt den Makel großer Verwegenheit, denn sie kommt von einer Forscherin, die nicht weiß, dass der wissenschaftliche Nachlass Hermann Ullrichs in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird. In diesem umfangreichen Konvolut (Fonds 67), das die gesamte Paradis betreffende Korrespondenz Ullrichs mit Archiven, Bibliotheken und Privatpersonen, sowie Fotografien vieler Primärquellen enthält, hätte die Autorin Antwort auf so manche Frage gefunden, die sie auf ihrer Odyssee unbeantwortet lassen musste. Wo ein mit den Quellen halbwegs vertrauter Leser das "Aufspüren bereits erschlossener Dokumente" erwarten konnte und sich Quellenforschung erhoffte, die über Ullrich hinausgeht, wird er leider enttäuscht. So verdienstvoll Marion Fürsts kompilative Leistung ist, bleibt sie doch hinter Ullrichs bahnbrechender Leistung zurück. Auf den ersten Blick beeindruckt zwar die Menge des hier angehäuften Materials, doch schon bald zeigt sich, dass das geradezu beneidenswerte Vertrauen der Autorin in die Paradis-Literatur die Skepsis des Lesers nicht mindern kann.

 

Die falsche und unvollständige Signatur des Taufbuchs von St. Stephan (mit Seiten- statt Folioangabe, S. 21) nährt sofort den Verdacht, die Autorin habe das Quellenstudium im Archiv der Metropolitan- und Dompfarre zu St. Stephan (so der korrekte Name dieses Archivs) unterlassen. Darum wird Paradis auch erneut als "erstes und einziges Kind" ihrer Eltern bezeichnet. Wir erfahren wieder nichts über Paradis' ältere Schwester Maria Theresia Clotildis (3. Juni 1758 – 17. März 1759), ihre (nicht am selben Tag getauften) Zwillingsschwestern Josepha und Elisabeth und ihre zahlreichen weiteren Geschwister beiderlei Geschlechts. Ebenso verborgen bleibt uns ihr Großvater Claudius, ein Kammerdiener und später "Gräflich Esterházy'scher Regent", dessen Vorname auf die savoyische Herkunft der Familie schließen lässt. Leopold Paradis, Tänzer (!) am Kärntnertortheater und Onkel der Komponistin, der 1753 nach Paris ging, um "dort besser tanzen zu lernen" und 1776 die Ballettschule des Moskauer Waisenhauses übernahm, fiel ebenfalls dem Nichtaufspüren wichtiger Dokumente zum Opfer. Unter Zuhilfenahme zahlreicher, nicht schwer zu findender Quellen hätten sich auch die in Fürsts Augen "vermutliche" Wohnadresse im Jahr 1759 identifizieren und zwei bisher unbekannte Übersiedlungen der Familie nachweisen lassen. Bei der Überprüfung des Geburtsdatums von Paradis' Vater Joseph Anton scheint die Autorin ähnlich vertrauensselig vorgegangen zu sein, denn es ist ihr nicht bekannt, dass sich die Eintragung im Taufbuch Tomus 31 der Schottenpfarre (das in Fürsts Quellenverzeichnis fehlt) nicht auf einen Joseph Anton, sondern einen Joseph Johann Nepomuk Franz Paradis bezieht. Das Datum wird zwar auch von Wurzbach und Hermann Ullrich genannt, da Ullrich aber diese Eintragung nie selbst gesehen hat, müsste die Identität dieses Kindes mit Paradis' Vater erst nachgewiesen werden.

 

Die Taufeintragung des Joseph Johann Nepomuk Franz Paradis vom 24. Juli 1733 (Pfarre Schotten, Tom. 31, fol. 48v)

 

Dass Paradis' Mutter mit einer falschen Reihenfolge der Vornamen und falschem Geburtsjahr genannt wird, fällt nicht mehr ins Gewicht. Die neuerliche Erörterung des angeblichen Adelsprädikats der Paradis, die tatsächlich in der Frage gipfelt, ob ihr Vater ein "Schwindler und Betrüger" gewesen sei, und "große Zweifel" zurücklässt (S. 22), verrät Unkenntnis der rechtlichen Situation im 18. Jahrhundert. Die Familie Paradis scheint nicht in Karl Friedrich von Franks Verzeichnis der Standeserhebungen und Gnadenakte auf. Es existiert weder ein Adelsdiplom im Allgemeinen Verwaltungsarchiv, noch wurden die Verlassenschaften der Eltern der Komponistin vom k. k. Landrecht abgehandelt (worauf Ullrich schon 1961 hingewiesen hat). Die Genealogie von Paradis' mütterlichen Vorfahren wurde schon vor Jahren erforscht (Raab 1944, Sommer-Mathis 1992). Auf die Verwendung des Portheim-Katalogs scheint Fürst verzichtet zu haben, was sich auf ihre biographischen Recherchen nicht günstig auswirkte. Geradezu symptomatisch für die Vermeidung konsequenter Erschließung wichtiger Primärquellen ist die Nichtbeachtung der Verlassenschaftsakten der Eltern Paradis. Die Signatur der Sperrsrelation des Vaters taucht in veralteter Form schon bei Ullrich auf und wer nun hoffte, Fürst würde diese von Ramsauer und Ostleitner mittels einer fehlerhaften Signatur verwischte Spur weiterverfolgen, sieht sich enttäuscht. Die 28 Seiten umfassende Verlassenschaftsabhandlung von Joseph Anton Paradis aus dem Jahr 1808 enthält ein komplettes Inventar der Paradis'schen Wohnungseinrichtung und eine eigenhändige, vom 20. Mai 1800 stammende Erklärung des Vaters, dass seine Tochter 1786 nach ihrer Rückkehr von ihrer Reise die nötige Haushaltseinrichtung von ihren Einkünften ganz neu angeschafft und ihn jahrelang mit ihrer Pension unterstützt habe, weshalb seine gesamten Fahrnisse ihr Eigentum seien. Ferner enthält der Akt natürlich die gerichtliche Inventur des (hoch überschuldeten) Verlassenschaftsvermögens, die von der blinden Universalerbin eigenhändig mit drei Kreuzen (ihre einzige autographe Unterschrift in den Akten) signiert wurde (der Namenszug stammt von Johann Riedinger).

 

Paradis 1808

 

Ebenso unbeachtet ließ die Autorin die Verlassenschaft der Mutter der Komponistin, Maria Rosalia Paradis, die zwar in Baden starb, deren Verlassenschaft aber, da sie am Franziskanerplatz in Wien wohnte, selbstverständlich vom Wiener Magistrat abgehandelt wurde. Auch die originalen Verlassenschaftsdokumente der Komponistin selbst, also das Testament und die Sperrsrelation, waren Fürst keine kritische Edition wert. Das Testament zitiert sie in großem Vertrauen aus der Literatur (was uns einen "k. u. k." Rittmeister im Jahr 1824 beschert, S. 197). Alle diese Dokumente hätten natürlich in das Kapitel "Edition wichtiger Quellen" (S. 295ff.) gehört, wo man auch Transkriptionen der im Sarasin-Archiv in Basel befindlichen Dokumente vermisst. Die Briefe von und an Paradis wurden aus der Sekundärliteratur übernommen, die einzige authentische Primärquelle, ein Brief Johann Riedingers an Ignaz von Mosel aus dem Jahr 1824, wird dem Leser (ohne Signatur) in einer fehlerhaften und unvollständigen Transkription präsentiert.

 

Das Siegel der Familie Paradis

 

Das Stammbuch der Maria Theresia Paradis in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek (auch hier fehlt die Signatur) bildet erwartungsgemäß das dokumentarische Rückgrat dieser Paradis-Biographie. Fürsts Meinung, dass dieses Stammbuch "eine Faksimile-Ausgabe mit wissenschaftlichem Kommentar verdiente" (S. 8), kann man sich nur anschließen. Nur wird Marion Fürst in dieser Edition wohl nicht involviert sein, denn wie der erstaunte Leser feststellen muss, konnte sie kaum eine der Eintragungen in diesem Stammbuch lesen und muss daher die Mehrzahl der in Kurrentschrift verfassten Texte aus der fehlerhaften Literatur (Frankl 1876, Scheib 1915) zitieren. Wenn man in Paradis' Stammbuch blättert und dabei Fürsts Arbeit zu Rate zieht, traut man oft seinen Augen nicht und es ist unerklärlich, warum die Autorin bei ihrer philologischen Arbeit von den Herausgeberinnen so alleingelassen wurde. Folgende Transkriptionen von Stammbucheintragungen fallen bei einer kursorischen Überprüfung als entweder unvollständig, oder fehlerhaft ins Auge: Auguste Wendling (französischer Plural und Seitenzahl falsch), Graf von Wolfegg (Transkription fehlt, falsches Datum), Giuseppe Caldarini (trug sich am 18. Jänner (!) 1784 ein), Pfeffel (Ort, Datum und ein ganzer Satz fehlen), Lerse (falsche Seitenangabe), Lavater (Transkriptionsfehler, Orts- und Seitenangabe fehlen), Edmée (Transkription fehlerhaft, das Lied für Madame Paradis fehlt), Hedwig Achenwall (zitiert nach Ebsteins fehlerhafter Transkription, falsches Datum, Seitenangabe und Verweis auf STB 25 fehlen), Gottfried August Bürger (falsches Datum, richtig: 17. November 1785), Jerusalem (zitiert nach Frankls fehlerhafter Transkription), Claudius (Transkriptionsfehler), Breitkopf, Denis, Neumann, Wagner und Keresztury (die verwendeten Transkriptionen Scheibs sind alle fehlerhaft), Muller (nicht "Müller", Transkriptionsfehler), Leon (falsches Datum, Scheibs Version ist fehlerhaft), Haschka (falsches Sterbejahr, in Scheibs Transkription fehlen zwei Zeilen), sowie Blumauer (falsches Sterbejahr, Frankls Edition ist sehr fehlerhaft). Nannette Duschek (hier "Dušek", warum nicht à la mode "Dušková"?) "dichtete" nicht, sondern schrieb einen mit Montaigne angereicherten Text aus einem populären Vaudeville nieder, der Fürst nicht bekannt sein dürfte, sonst hätte sie nicht zweimal "passage" als "paysage" gelesen (S. 174). Der im Juli 1793 in Bern verstorbene Cellist Wenzel Himmelbauer, Sohn des Regenschori der Wiener Karlskirche Leopold Himmelbauer, wurde zu einem "Himmelpan" verstümmelt. Wer Schubarts Ästhetik der Tonkunst gelesen hat, kennt den Namen dieses Cellisten, dessen köstliches, selbstverfasstes Gedicht für Paradis eine Transkription verdient hätte.

 

Liebste Frau von Paradis
zeit lebens ich sie nicht vergiß
sambt unser lieben Freüle Therese
mit ihrem Englischen Clavier geteße
ich bin ihr Freünd ohne zweifel
sonst holl mich der teüfe[l]
als ein aufrichtiger Wienner
ihr Gehorsambster Unt[erthänigster] Diener

Wenceslaus
Himmelpaur
Violloncellist
Bern den 29t Februario 1784

Das Verwandtschaftsverhältnis von Joseph und Rosa Kupelwieser zu anderen Trägern dieses prominenten Namens, das laut Fürst "unklar bleiben muß" (S. 159), wird in einem Brief Ernst Kupelwiesers an Hermann Ullrich erklärt, der sich in Ullrichs Nachlass befindet. Rosalia Kupelwieser war außerdem ein Patenkind von Joseph Paradis, der als Freund der Familie auch 1789 als Trauzeuge von Johann Kupelwieser (dem Vater von Joseph und Leopold) fungierte. Zur Klärung biographischer Fragen, die über die alte Literatur hinausgehen, fehlte offenbar die Recherchekompetenz. Sätze wie "Am 21. Januar 1793 wurde Ludwig XVI. in Paris hingerichtet. Über diese Gewalttat entrüstete sich in Frankreich niemand." (S. 161) überlebten jedes Lektorat.

 

Weil man spätestens hier dem Rezensenten jene Akribie zum Vorwurf machen könnte, die die Autorin vermissen lässt, sei abschließend jene Frage gestellt, die diese (unvollständige) Errata-Liste provozierte: sind Biographien heute noch zeitgemäß und wissenschaftlich sinnvoll, die sich unter Umgehung wichtiger Archivalien und Vermeidung genauer Quellenüberprüfung auf Literatur stützen, die manchmal über 130 Jahre alt ist? Dass WissenschaftlerInnen auf der fondsfinanzierten "Musik und Gender"-Schiene immer öfter in historische Epochen verschlagen werden, in denen sie absolut nicht firm sind, ist kein Problem. Aber wäre es nicht wunderbar, wenn Biographien von Musikerinnen nicht nur der Wiederholung des schon Bekannten und der Vermehrung von Irrtümern dienten?

 


© Dr. Michael Lorenz 2007. Alle Rechte vorbehalten. Publiziert im Mozart-Jahrbuch 2007/08, Bärenreiter, Kassel etc, 2011, 189-193. Im Internet veröffentlicht am 3. August 2010.        nach oben