Michael Lorenz
Ilija Dürhammer: Schuberts literarische Heimat. Dichtung und Literaturrezeption der Schubert-Freunde, Dissertation an der Universität Wien, 1998
Ilija Dürhammers im Sommersemester 1998 am germanistischen Institut der Universität Wien abgeschlossene Dissertation beeindruckt durch ihren Umfang und weckt die Hoffnung, das Thema der Literaturrezeption bei Schubert sei endlich gründlich aufgearbeitet worden. Dürhammers Arbeit basiert auf einem eindrucksvollen Plan und umfaßt folgende, einander manchmal überschneidende Themenbereiche: 1) "Geistesgeschichtliche Koordinaten der unterschiedlichen Freundesgruppen" (der oberösterreichische "Tugendbund" und seine Dichtungen, die "Unsinnsgesellschaft", Johann Mayrhofer, Senn, Bruchman und Schober) 2) Freundesliebe im Schubert-Kreis (Ramdohrs Venus Urania, Männerliebe der Goethe-Zeit und der Freundschaftsbegriff der Schubert-Freunde) 3) Vaterlandsliebe und Freiheitssinn (Ottenwalts "Caesar" und die Senn-Affäre) 4) Die literarischen Auswirkungen der Freundes-Ideale auf Schuberts Vokalwerk (die geistesgeschichtlichen Phasen in Schuberts Vokalschaffen, die Hauptmotive in Schuberts Vokalwerk und die ästhetischen Konstanten und Phasen als die wesentlichen Komponenten von Schuberts literarischer Welt). Wie Dürhammer in der Einleitung feststellt, könne "Schuberts geistiges und literarisches Umfeld nur durch genaue Aufarbeitung der Quellen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis erschlossen werden." Und weiter: "Eine angemessene Gesamtbeurteilung dieser Texte, die teilweise unveröffentlicht, teilweise an entlegener Stelle und nicht mehr verfügbar sind, ist bisher unmöglich, und die vorliegende Untersuchung mußte daher auf die Quellen zurückgreifen und sie teilweise extensiv zitieren." Dürhammer kommt in Teilen seiner Dissertation auf manche seiner früher publizierten Arbeiten zurück, wie zum Beispiel seine Diplomarbeit "Zu Schuberts Literaturästhetik" (veröffentlicht in Brille 14) und seine Aufsätze über Schlegel (Brille 16/17), Senn und Bruchmann (Brille 19), bzw. Mayrhofer ("Was ich gefühlt, hast Du gesungen" neue Dokumente zu Johann Mayrhofers Leben und Schaffen, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft, Nr. 31, S. 42f.).
Die Crux dieser Arbeit ist leider der sehr nachlässige Umgang mit den Primärquellen, der den Leser bald völlig von den Kommentaren des Autors ablenkt. Hat man erst einmal erkannt, daß man sich auf die meisten von Dürhammer vorgelegten Transkriptionen nicht verlassen kann, ist die Glaubwürdigkeit seiner Interpretationen bald dahin. Den ersten Eindruck seines wissenschaftlichen Anspruchs und seiner Quellenkenntnis erhält man im Vorwort: Dürhammer gesteht seine "Überraschung", in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek "auf über zweihundert Briefe aus dem Freundeskreis" gestoßen zu sein. Es ist diese Überraschung des Autors, die hier zur Überraschung des Lesers wird. Weiters gibt Dürhammer an, im Stift St. Florian "eine Gedichtsammlung von weitgehend unveröffentlichten Texten aus dem Freundeskreis" und im Benediktinerkloster Kremsmünster "eine bisher unbekannte Abschriftensammlung" gefunden zu haben. Das Neuigkeitserlebnis, welches Dürhammer bei diesen Entdeckungen umfing, dürfte ein recht persönliches gewesen sein: die Handschriftenbestände XI 543 E und XI 591 G aus St. Florian wurden ja nicht nur 1951 von Helga Prosl genannt und teilweise veröffentlicht, zum letzteren Konvolut wurde von Walburga Litschauer Ende der 1980er-Jahre sogar ein Verzeichnis erstellt. Im Jahr 1997 wurden schließlich alle diese Dokumente des Stiftes St. Florian in einer Sonderschau präsentiert. Die "Entdeckungen" in Kremsmünster (die Handschriften I 35,31 u. 32, Dürhammer gibt in seiner Bibliographie keinerlei Signaturen an) sind der Fachwelt ebenso bekannt wie die "verschollen geglaubten" historischen Versdramen Anton Ottenwalts im Bestand des Oberösterreichischen Landesmuseums Francisco-Carolinum, die bereits im Jahr 1960 katalogisiert wurden. Man kann also konstatieren, daß Dürhammer für sich so manches gefunden hat. Die Art, wie dieses Erlebnis angepriesen wird, kann nur als nur unseriös bezeichnet werden. Schon im Vorwort schlägt Dürhammer einen spezifisch aggressiven Ton, der sich in stark persönlicher Färbung auch durch Teile seiner Dissertation zieht: er läßt sich durch persönliche Konflikte beeinflußt auf Attacken ein, die in einer wissenschaftlichen Arbeit doch ein unerwartetes Moment bilden. Diese Angriffe gipfeln in einer Fußnote, in der er sich gegen die Bezeichnung "Anti-Musikologe" mit dem Argument zu wehren versucht, man könne auch nicht "alle Nicht-Juden als Anti-Semiten" bezeichnen (S. 324).
Dürhammer beschäftigt sich eingehend mit den literarischen Produktionen des Linzer Freundeskreises, den Dichtungen des "Tugendbundes", Ottenwalt, Kenner und Kreil, wobei ihm der Reisebericht "Mnemosyne" (1817) des letzteren leider unbekannt sein dürfte. Das ist insofern schade, als Platen dieses Buch nachweislich vor seiner ersten Italienreise zu Rate zog und in seinen "Sonetten aus Venedig" ein bisher unbeachteter reziproker Einfluß erkennbar ist. Im Kapitel über "Johann Mayrhofers Einsamkeit" wehrt sich Dürhammer entschieden gegen die Vermutung, der von Mayrhofer in dessen Nekrolog auf Schubert genannte "zweyte Vater Schuberts" sei Schober gewesen. Wie er Mayrhofers Aussagen interpretiert, verschweigt Dürhammer zwar in seiner Dissertation, seit 1997 wissen wir jedoch, wen Mayrhofer laut Dürhammer mit dieser Bezeichnung meinte: sich selbst! Im zweiten großen Kapitel widmet sich der Autor der Freundes- und Männerliebe, die er in interessanter Weise mit Ramdohrs Venus Urania in Beziehung stellt. Sieht man von den fehlerhaften Transkriptionen ab, ist Dürhammers Arbeit zu diesem Thema beispielgebend für weitere Untersuchungen, wobei man sich in Zukunft von seiner beliebigen Auswahl der Briefzitate lösen wird müssen.
Will man das Niveau von Dürhammers Umgang mit den Primärquellen, auf denen seine philologischen Schlüsse beruhen, beurteilen, lohnt es sich, seine eigenen hohen Ansprüche als Maßstab anzuwenden. Er bestimmt dieses Maß in einer Fußnote (S. 96), die er aus seinem Mayrhofer-Aufsatz übernimmt: "Bei Gramit [The Aesthetics of Johann Mayrhofer's 'Heliopolis'] finden sich übrigens einige Übertragungsfehler, die offensichtlich darauf zurückzuführen sind, daß der Autor keinen 'native speaker' zum Korrekturlesen herangezogen hat." (Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft, Nr. 31, März 1997, S. 20). Diese kritische Bemerkung verblüffte schon 1997, weil sie in einem Aufsatz fiel, der selbst über 40 Transkriptionsfehler enthielt und damals unter Fachleuten kein geringes Amüsement verursachte. Man erlebt eben nicht alle Tage, daß jemand "Ritter" als "Luther" liest und daran auch noch eine Fußnote über das Luthertum im Mittelalter knüpft, "Kinderbewahranstalten" zu "Liederbewahranstalten" macht, oder Schobers Onkel mit seinem Vater verwechselt. Auch die Kritik, welche Dürhammer wiederholt an den seiner Meinung nach fehlerhaften und willkürlichen Transkriptionen von Otto Erich Deutsch übt (S. 17) - Eingriffe in die Orthographie legt er diesem besonders schwer zu Last - dokumentiert sein lobenswertes Streben nach wissenschaftlicher Genauigkeit. Angesichts des Umfangs von Dürhammers Dissertation ist eine Überprüfung, wie weit er seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden konnte, nur in Form von Stichproben möglich und nach Vergleich eines Teils der von Dürhammer vorgelegten Abschriften mit den Originalen kommt man zu der entschiedenen Überzeugung, daß ein korrekturlesender "native speaker" auch bei Dürhammers Arbeit von großem Nutzen gewesen wäre. Ein paar besonders gravierende Beispiele seien genannt: Der Ausschnitt aus dem Brief Anton von Spauns, WStLB I.N. 36.655 (S. 52) enthält 12 Transkriptionsfehler (darunter z. B. drei nicht übertragene Wörter und eine falsche Übersetzung aus dem Lateinischen). Spaun an Schober, WStLB I.N. 36648 (S. 62): sieben Fehler (u. a. zwei fehlende Wörter). Josef Huber an Rosalie Kranzbichler (bei Dürhammer kurioserweise "Katzenbichler"), WStLB 191.608 (S. 107): fünf Fehler, darunter zwei fehlende Wörter und die kuriose Anrede "Meine theuerste Fräulein!" (statt "Freundin"). Ottenwalt an Schober, WStLB I.N. 36.509 (S. 128): drei, mitten im Satz fehlende Wörter und einmal "kannst" statt "lernst". Ottenwalt an Schober, WStLB I.N. 36.518 (S. 131): drei Fehler und eine falsche Signatur. Ottenwalt an Schober, WStLB I.N. 36.525 (S. 183): vier Fehler und ein fehlender Nebensatz ("[...] in der Hand eines Freundes und andere Wünsche kennt ihr nicht"). David Gramit hat die zärtlichen Passagen dieses Dokuments in seinem Aufsatz "'The passion for friendship': music, cultivation, and identity in Schubert's circle" (in: The Cambridge Companion to Schubert, Cambridge 1997, S. 68 u. 300f.) veröffentlicht. Und hier zeigt sich, daß Dürhammer Gramits Fehler nicht nur heftig kritisiert, sondern sie auch gleich kopiert: das Zimmer, in welchem Anton von Spaun Klavier spielte war nicht jenes einer "Fr. v Brandt", sondern gehörte der Frau von Berndt (es überrascht, daß beide Autoren den Namen von Spauns Tante nicht kennen). Weitere Beispiele von Dürhammers "Transkriptionen": Senn an Bruchmann, WStLB I.N. 36.339 (S. 210): acht Fehler (u. a. "Form" statt "Ferne"). Senn an Schober, WStLB I.N. 26.338 (S. 211): fünf Fehler, darunter zwei fehlende Wörter und ein falsches Datum. Senns Gedicht "Freundes Ankunft" I.N. 36.336 wurde ebenfalls nicht fehlerlos transkribiert. Auch Bauernfelds Tagebuch entkommt dieser erbarmungslosen Schlamperei nicht: im Kapitel "Freundesliebe im Schubert-Kreis" (S. 268) wurden zwei Eintragungen (Juni u. Juli) zu einer zusammengezogen, wodurch eine völlig falsche Datierung entstand. Als ob das nicht genügte, ist die angegebene Jahreszahl auch falsch (richtig: Juli 1825). Schwinds Geständnis, "es drücke ihn, daß er Bauernfeld in niemals zu seiner Netty habe führen können", paßte offenbar nicht in den Kontext der Männerfreundschaften und wurde daher von Dürhammer mit "[...]" ersetzt. Der letzte Satz der Passage mit Bauernfelds berühmter Cellini-Anmerkung (die einer Theorie Dürhammers zufolge gar nicht aus Schuberts Lebzeiten herrühren muß) erfährt eine ganz neue Transkription: "In mir steckt noch Riesenmut und Blut!" Das weicht zwar von Glossys Version etwas ab ("Reisemut und Blut"), der Autor wird uns aber sicher eines Tages erklären, was der Begriff "Riesenblut" hier zu bedeuten hat. Es ist gar nicht nötig, die Abschriften sämtlicher Dokumente zu kontrollieren, Dürhammers Schlamperei ist absolut verläßlich.
Zu den reinen Transkriptionsproblemen reiht sich eine oft erstaunliche Unkenntnis der Quellen, die so manche Fehlinterpretationen in Kraut schießen läßt. Im Kapitel über Mayrhofer - in dem wir auch erfahren, daß Mayrhofer "eine Affinität zur Freimaurerei" hegte, weil die "Zauberflöte" seine Lieblingsoper war - zitiert Dürhammer neuerlich den Brief Feuchterslebens an Schober vom 10. Februar 1836 (S. 94). Natürlich ist auch diese Abschrift fehlerhaft: wie schon 1997 ist die Rede von einem "epischen Gedicht aus den Bitterzeiten" (richtig: "Ritterzeiten"). Daß Dürhammer noch immer an seiner "Ersttranskription" dieses Briefes aus dem Jahr 1997 festhält, ist erstaunlich. Inzwischen muß er doch gemerkt haben, daß dieses Dokument neben anderen Briefen Feuchterslebens schon 1952(!) fehlerlos in der Zeitschrift Euphorion publiziert wurde. Die Feststellung "mehr als diese Quellen sind über Mayrhofers Leben nicht überliefert" ist recht gewagt, nachdem Dürhammer nicht einmal die betreffende Passage aus der Spaun-Chronik vollständig zitiert und sich offenbar auch nicht überlegt hat, wo noch weitere Quellen zu Mayrhofer zu finden wären.
In seinen Kommentaren zur Senn-Affäre, in welchen er tatsächlich versucht, Senns Verhaftung mit Jugendverführung und Unzucht in Zusammenhang zu bringen (S. 212f.), demonstriert Dürhammer auf eindrucksvolle Weise, wie es einem ergehen kann, wenn man über Akten der Polizeihofstelle im Verwaltungsarchiv schreibt, die man nie gesehen hat. Er spricht nicht nur von "verschollenen Polizeiakten" - als ob er sie im Justizpalast gesucht hätte - er fällt auch der fehlerhaften Sekundärliteratur zum Opfer. In ihrem Aufsatz »Solche Art negativer Freiheit« Johann Chrysostomus Senns philosophischer Kommentar zu Hegels »Phänomenologie des Geistes« (in: Verdrängter Humanismus - verzögerte Aufklärung. Österreichische Philosophie zur Zeit der Revolution und Restauration, hrsg. v. Michael Benedikt , Wien 1992, S. 877-920) verweist Barbara Otto ca. 30 mal auf den die Verhaftung Senns betreffenden Akt "Allgemeines Verwaltungsarchiv, Polizeihofstelle 64/1820". Sie nennt in ihren Fußnoten grandiose, dreistellige Faszikelzahlen (die nur vor 1927 gebräuchlich waren) und man könnte wirklich glauben, es gäbe diesen Akt in seiner ursprünglichen Form noch. Dieser Akt wurde jedoch beim Brand des Justizpalastes auf 74 Blatt reduziert und alle Dokumente, die sich mit Senn, Schubert und Streinsberg befaßten (Dokumente S. 87f.) sind vernichtet. Es existieren nur mehr ein paar angekohlte Berichte zu den Verhaftungen der Studenten in Linz. Otto zitiert eine vor 1927 angefertigte Abschrift, zieht es aber vor, diese nicht zu nennen. Dürhammer glaubt ihr einfach alles und meint sogar, "Barbara Otto habe einen Aktenvermerk ausfindig gemacht" (S. 316).
Die fehlerhafte Transkription von Spauns Familien-Chronik verfolgt Dürhammer wie eine Nemesis. Es ist dies wohl die Rache Spauns dafür, daß er sich von Dürhammer der "Vertuschung und Kaschierung" (Achberg-Katalog 1997 S. 86) bezichtigen lassen mußte. Beim Vergleich mehrerer Ausschnitte aus Spauns Erinnerungen in Dürhammers Arbeit wird klar, daß Dürhammer nicht aus einer einzigen Quelle zitiert ("Familienbesitz" wie er angibt). Bei der Behandlung der Biographie Mayrhofers wiederholt er eine Vorgangsweise, der er sich schon 1997 in seinem Aufsatz befleißigte: er gibt zwar vor, aus der Spaunschen Familienchronik zu zitieren, bedient sich aber des Typoskripts Fridolin Spauns aus den 1980er-Jahren, das wegen seiner Ungenauigkeit für den wissenschaftlichen Gebrauch ungeeignet ist. Alle grammatikalischen Fehler und Auslassungen dieser Abschrift sind bei Dürhammer zu finden und summieren sich in dem von ihm zitierten Ausschnitt (S. 92f.) auf über 60. Es heißt eben nicht "der Tabakgesellschaft, sondern "des Tabakgefälls", nicht "Tabaksbrüder Narr", sondern "Tabacks Luder Narr". Das Rufzeichen Dürhammers nach "in einigen Briefen" ist schon fast eine unbewußte Selbstanklage, denn richtig heißt es "in einigen Kreisen [bereits ...]". Aus der selben unreinen Quelle dürfte der nächste Ausschnitt der Spaun-Chronik stammen: die kurze Passage über Marie Schmith (S. 110) enthält allein zehn Fehler. Dabei wäre es leicht gewesen, sich den Aufsatz "Dr. med. Anton Schmith" (Mozart-Jahrbuch 1958, S. 22-28) des vielgeschmähten Otto Erich Deutsch anzusehen und angesichts der dort befindlichen korrekten Abschrift zu bemerken, daß mit der verwendeten Vorlage irgend etwas nicht stimmen kann. Warum aber soviel Aufwand treiben? Es ist ja nur eine Dissertation. Der Ausschnitt der Spaun-Chronik über Franz Schober (S. 127f.) bietet ein ähnliches Szenario. Die benützte Quelle ist hier wieder nicht das Original, sondern eine andere Abschrift, was sich an der Orthographie erkennen läßt. Dürhammers Fußnote: "Die orthographische Vereinheitlichung Deutschs wurde nicht berücksichtigt" entbehrt insofern nicht einer gewissen Kuriosität, als die von Deutsch transkribierte Passage sich durch ihre Fehlerlosigkeit in beeindruckender Weise von Dürhammers Leistung abhebt.
Bei der Behandlung der "Unsinnsgesellschaft" (unter dem Aspekt der geistesgeschichtlichen Koordinaten der Freundesgruppen und der Freundesliebe) zeigt sich ein persönliches Problem Dürhammers: es fällt ihm offenbar schwer, zu akzeptieren, daß nicht er es war, der die Unsinnshefte in der WStLB identifiziert hat, sondern Rita Steblin. Der Konflikt mit dieser Kollegin hat nicht nur zufolge, daß er ihr im Vorwort jeden Dank explizit verweigert und sie als "eine gewisse Unaussprechliche, die sich seit Jahren dem Unsinn verschrieben hat" bezeichnet, er versucht Steblins Leistung auch dadurch zu reduzieren, daß er die Unsinnshefte nur mehr als "Fund" bezeichnet, wobei er wider besseres Wissen andeutet, daß eigentlich Tietze und Feuchtmüller ihre eigentliche Entdecker gewesen seien (S. 245). Es gilt ebenso, möglichst oft den Ausstellungskatalog von Schloß Achberg als Literatur zur Unsinnsgesellschaft zu nennen, obwohl das betreffende Kapitel dieser Publikation nur eine illustrierte Sammlung von Mißverständnissen und Fehlern genannt werden kann. Dürhammer verwendet konsequent Steblins Forschungsergebnisse zur Unsinnsgesellschaft, ohne in den betreffenden Passagen auch nur einmal seine Quelle zu nennen. Alle Informationen zu den Biographien der weniger prominenten Unsinnsmitglieder, die Dürhammer - quasi als wissenschaftliches Allgemeingut - benützt (z. B. Smirschs Mitbewohnerinnen S. 242, Ferdinand Dörflingers Heirat S. 243 und Informationen zu Therese Fellner S. 89) basieren auf den umfangreichen Recherchen Steblins im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Dafür macht Dürhammer seinerseits Otto Erich Deutsch die "Nichtnennung von Erstentdeckern" zum Vorwurf (S. 316). Dürhammer war nicht einmal in der Lage, Steblins Forschungen fehlerlos zu übernehmen: die von ihm genannte "Vermieterin und Mutter der drei Mädchen" (S. 242) ist ein Produkt seiner Phantasie und scheint in dem betreffenden Konskriptionsbogen (Stadt 755), den er nie gesehen hat, nicht auf. Da er nicht bis zum Abschluß der Publikation an der Edition von Steblins Buch beteiligt war, zeigen sich in Dürhammers Zitaten der Unsinnshefte allerorten verräterische Spuren fremder, später geänderter Transkriptionen. Die Lesart "Randschaftsperspektive" (mit einer Hervorhebung des Autors, S. 242) ist eine schon lange korrigierte Urfassung von Steblins Abschrift vom März 1996. Der kritische Verweis auf die zweifelhafte Bedeutung von "Schwulitatibus" als "Dummheiten unseres Zeitalters" geht völlig ins Leere, da ja die Autorin dieser Interpretation "unaussprechlich" bleiben muß (S. 240). Andernfalls könnte man ja bemerken, daß schon jemand anderer zu den Unsinnsheften Vorarbeiten geleistet hat. Wie der für Dürhammer "nicht recht nachvollziehbare" (ebd.) Witz zu deuten ist (Faustini, Gregori, etc.), kann man inzwischen in Steblins Buch auf S. 382 nachlesen. Die Numerierung der Unsinnshefte hat Dürhammer offenbar nicht verstanden, da er von "45 möglichen Heften" schreibt (S. 80). Es ist ihm völlig unbekannt geblieben, daß die Unsinnsgesellschaft mit Jahresbeginn 1818 ihre Hefte wieder mit Nummer eins beginnend numerierte. Bezeichnet Dürhammer Steblin als "Anti-Solomon-Forscherin" (S. 246), so kann man ihn angesichts seines Vorwurfs der "agitatorischen Vorgangsweise und Panik" nur einen "Anti-Steblin-Forscher" nennen. Die inzwischen recht prominente Unterschrift auf einer Einladung an Schubert und Schober (WStLB I.N. 36.542) will Dürhammer krampfhaft Johann Carl Smirsch ("Nina Wutzerl") unterjubeln. Alle Argumente Dürhammers zu "Minas" Identität sind heute aber vollkommen müßig, da autographe Schriftstücke von Johann Carl Smirsch und Wilhelmine Witteczek vorliegen, die beweisen, daß Steblin recht hatte (19th CM 17/1993). Diese Quellen sind Dürhammer unbekannt. Er kennt Schuberts Freunde viel besser und weiß, daß Josef Witteczeks Gattin "sich höchstwahrscheinlich freuen würde, wenn man ihr als Dame der guten Gesellschaft einen solch ausgelassenen Brief andichten würde und ihn ausgerechnet mit ihrem Vornamen, ja mehr noch, mit einem Spitznamen unterschreiben ließe" (S. 246). Um ganz sicher zu gehen, verleiht Dürhammer dieser Dame auch noch posthum das Adelsprädikat (ebd.). Dürhammers Überlegung, daß diese "Adelige" mit den zwei eingeladenen Freunden "dann offensichtlich gleich intim war" ist zu abstrus, um hier behandelt zu werden. Ferner nennt er einen "Beweis für die Liebesbeziehung zwischen Johann Mayrhofer und Wilhelmine von Witteczek", den Steblin angekündigt habe. Es handelt sich jedoch nicht um das, was Dürhammer für eine "Liaison" hält, sondern um eine stille, schüchterne Verliebtheit Mayrhofers vor dem Jahr 1819, die mit Schubert und Schober überhaupt nichts zu tun hat (S. 247). Auch in diesem Fall ist Dürhammer die betreffende Quelle unbekannt.
Es bietet sich das Bild eines quellenkundlich nicht firmen Wissenschaftlers, der offenbar aus Neid auf Funde anderer in einer wissenschaftlichen Arbeit zu einem Rundumschlag ansetzt.
Dürhammer wiederholt auch seine These, das Zitat aus dem Unsinnsheft vom 20. November 1817 "Die schlafenden Jünglinge oder der träge Unsinnsclubb" sei eine Anspielung auf die erste Lieferung der "Beyträge zur Bildung für Jünglinge" (S. 90 u. 249). Wie man nun in Steblins Buch (S. 251) erfahren kann, ist diese Interpretation nicht haltbar, da es sich hier um eine Anspielung auf zwei Werke von Christian Heinrich Spieß handelt, die ein Germanist eigentlich kennen sollte. August Kopisch werden auf Basis einer Gehässigkeit Chamissos homophile Gefühle für Platen nachgesagt (S. 248). Kopischs Geständnis einer unglücklichen Liebe zu einem verwandten Mädchen, die der Grund für seine Italienreise war, ist Dürhammer entweder nicht bekannt, oder wurde als einer größeren Tendenz widersprechendes Faktum bewußt unterdrückt.
Zuletzt sei noch ein besonders typisches Beispiel für Dürhammers willkürliche Quellenbehandlung genannt. Auf einem "bisher unbekannten" Brief von Ferdinand Haas von Juni 1814 baut Dürhammer zum Thema "Freundesliebe" ein ganzes Unterkapitel auf: "Die Sch***-Affäre und die Folgen der aufgedeckten 'Selbstbefleckung'" (S. 188ff.). Es geht um die Identität eines der Selbstbefleckung bezichtigten Kremsmünsterer Zöglings, dessen Namen in diesem Brief mehrere Male ausrasiert wurde. Für Dürhammer ist klar, daß es sich bei dieser Person nur um Franz von Schober handeln kann, da der weggeschabte Name seiner Meinung nach mit "Sch" beginnt. Das ist jedoch reines Wunschdenken, denn dieser Name beginnt nur mit "S", weitere Buchstaben sind nicht zu identifizieren. Die Affäre wäre somit bestenfalls eine "S***-Affär". Die entscheidende Tatsache, die gegen Schober spricht, wird von Dürhammer mit einem lakonischen "bleibt freilich ein Rätsel" beiseite geschoben: der Brief stammt aus dem Nachlaß Schobers, er ist nicht "in den Nachlaß Schobers geraten" (wie Dürhammer das nennt), er ist an Schober adressiert. Der originale Vermerk "Schober" stammt nicht - wie Dürhammer glaubt - von einem Bibliothekar (in welcher Bibliothek sollte das geschehen sein? das Dokument kam von Deutsch an die WStLB), sondern von Haas selbst und wurde später mit dunkler Tinte nachgezogen. Folgt man Dürhammers Szenario, so schrieb Haas einem Unbekannten einen Brief mit der Aufschrift "Schober", worin Schober in der dritten Person als Selbstbeflecker beschrieben wird. Dieser Brief gelangte demnach auf rätselhafte Weise in den Besitz Schobers, der jedoch diesen Brief nicht vernichtete, sondern nur seinen eigenen Namen wegkratzte. Bevor man auf einer solch abstrusen Konstruktion ein ganzes Kapitel aufbaut, wäre es vorerst einmal nötig gewesen, sich in Kremsmünster die Zöglingslisten auszuheben, um zu sehen, wer als der große Unbekannte noch in Frage kommt. Der Selbstbeflecker muß nämlich gar nicht Mitglied des Tugendbundes gewesen sein. Es überrascht auch nicht mehr, daß Dürhammers Abschrift von Haas' Brief mehrere Fehler enthält: einen "Musenbrunnen" gibt es in Kremsmünster nicht, "Vihsa" heißt richtig "Vissa" und Carl betrug sich nicht "erfreut gegen den Präfekten", sondern "efront".
Es mag kleinlich erscheinen, das Hauptaugenmerk der Unmenge von Fehlern in Dürhammers Transkriptionen zu schenken. Wenn man jedoch bedenkt, daß mehr als die Hälfte dieser Dissertation aus Quellenzitaten besteht, wird klar, daß der Autor seinen literaturwissenschaftlichen Überlegungen ein großes Maß an Glaubwürdigkeit genommen hat. Da helfen auch nicht mehr die statistischen Kurven zu verschiedenen inhaltlichen Motiven und die sorgfältig angelegten Tabellen zu Schuberts Liedschaffen. Man muß konstatieren, daß sich diese Arbeit - besonders vor ihrer Approbation - einen aufmerksameren Leserkreis absolut verdient hätte.
Postskriptum: In einer Zuschrift an den Herausgeber hat Ilija Dürhammer die Mängel seiner in der Zeitschrift "Schubert durch die Brille" 23 (Juni 1999) rezensierten Dissertation damit zu erklären versucht, daß es ich dabei nur um "eine unpublizierte Vorfassung" seines Buchs "Schuberts literarische Heimat" (Böhlau 1999) handle. Abgesehen davon, daß das Einreichen einer Dissertation laut UG bereits als Publikation gilt und diese natürlich weit höheren Qualitätsansprüchen zu genügen hat, als eine Publikation im Böhlau-Verlag, ist das Buch ebenso fehlerhaft und erhebt sich nur dort über das Niveau seiner "Vorfassung", wo es stark gekürzt ist.
© Michael Lorenz 1999. Erschienen in: Schubert durch die Brille 23, Hans Schneider Tutzing 1999. nach oben