Michael Lorenz

Ulrich Eisenlohr "Der Leiermann" (CD Naxos 8.554471)

Die Neuaufnahme von Schuberts "Winterreise" der Firma NAXOS (Naxos 8.554471) durch den Bariton Roman Trekel und den Pianisten Ulrich Eisenlohr wartet mit einer schockierend kuriosen Interpretation des Liedes "Der Leiermann" auf. Eisenlohr ist offenbar überzeugt, als erster Pianist begriffen zu haben, wie Schubert die Klavierbegleitung wirklich gemeint hat. Er spielt nicht nur die dissonante Appogiatur in der linken Hand auf den Schlag, sondern er ist auch davon überzeugt, daß Schubert diesen Vorschlag nach den ersten zwei Takten in der Art eines "simile" oder "segue" das ganze Lied über beibehalten haben wollte.

Die akustischen Folgen dieser Idee sind durchaus fatal. Wir hören nun durchgehend zu Beginn jedes Taktes einen dissonanten Akkord im Baß, der den Höhepunkt unmusikalischer Grausamkeit in dem Moment erreicht, wo wir feststellen müssen, daß der Liederzyklus nun zum ersten Mal auf einer Dissonanz endet. Ulrich Eisenlohr hat seine Interpretation vehement verteidigt: da die Bordunsaiten einer Drehleier durch die Winterkälte wahrscheinlich verstimmt sind, sei es legitim, durch einen dissonanten Akkord einen schmutzigen Klang zu erzielen. Es gäbe – so Eisenlohr – keinen Grund zur Annahme, daß der Leiermann nach zwei Takten mit seinem Spiel aufhöre, da ihm ja laut Text "die Leier nimmer still steht". Daher müsse man annehmen, daß Schubert ganz auf den "intelligenten Pianisten" vertraut und es nicht für nötig gehalten habe, das "simile" zu notieren. Die Dissonanz lenke nicht von der Singstimme ab, sie versinnbildliche vielmehr "die Irritation des Wanderers durch seinen Schmerz". Eisenlohr beruft sich auf seine Überzeugung, daß es eben nicht nur eine richtige Art gebe, ein Kunstwerk zu lesen und zu interpretieren. Den Verdacht, daß er mit seinem kuriosen interpretatorischen Exkurs alle seine berühmten Vorgänger, die Schubert offenbar seit über 100 Jahren nicht verstanden haben, als unintelligente Musiker brandmarke, hat Eisenlohr entschieden zurückgewiesen.


Publiziert in: Schubert durch die Brille 25, Schneider Tutzing, Juni 2000. © Michael Lorenz 2000. Alle Rechte vorbehalten.