Michael Lorenz

 

Carl Nödl, Franz Schubert und die Künstlerfamilie Cramolini, Österreichischer Kunst- und Kulturverlag, Wien 2001

 

Von seinem Beitrag zum Schubert-Kongreß 1997 ("Die Entdeckung von zwei Schubertstätten") ausgehend beschäftigt sich Carl Nödl nun genauer mit der Geburtstagsserenade, die der Sänger Ludwig Cramolini unter der Leitung Schuberts im Sommer 1828 im Kahlenbergerdorf zur Aufführung brachte. Die Erforschung dieser netten Episode ist der Anlaß, sich genauer mit den Mitgliedern der Familie Cramolini zu beschäftigen, die binnen fünf Generationen mehrere Musiker und bildende Künstler hervorbrachte. Es ist Nödls großes Verdienst, endlich alle Irrtümer in Cramolinis Erinnerungen ausgeräumt zu haben, die Otto Erich Deutsch nicht klären konnte. Die Serenade fand nicht "Anfang der 20er Jahre", sondern 1828 statt und die Braut Kappus von Pichelsteins hieß nicht Marie Berthold, sondern Theresia von Pernold Edle von Bernwald und Bernthal. Diese Erkenntnisse führten schließlich zur Identifikation einer Schubertstätte im Kahlenbergerdorf (Wien XIX, Zwillinggasse 1). Nödl begibt sich auf die Suche nach den Wohnungen der Familie Cramolini, beschäftigt sich mit dem künstlerischen Werk der Maler Joseph und Johann Baptist Kramolin und präsentiert in nahezu unveränderter Form seine schon 1999 publizierten Forschungen zur Person des Friedrich Kappus von Pichelstein. Das Buch wird durch eine qualitativ hochwertige CD mit Musik der Geburtstagsserenade in ihrer originalen Besetzung (mit Pedalharfe statt Klavier) ergänzt. Dazu kommen die Transkription vieler Quellen und sämtlicher erhaltenen Briefe Ludwig Cramolinis, eine Liste der Rezensionen seiner Auftritte an der Wiener Oper und viele liebevoll ausgewählte Abbildungen.

 

Die schöne Ausstattung dieses Buches könnte den Leser jedoch über manche Aspekte hinwegtäuschen, die dem Motto auf dem Umschlag ("In konsequenter Forschung folgt der Autor den Spuren Franz Schuberts.") widersprechen und eine gewisse Neigung zur Legendenbildung erkennen lassen. Die Angaben zu den Grundbucheintragungen zweier Häuser der Familie Wanderer in Nußdorf, die Nödl 1999 publizierte, erwiesen sich bei der Überprüfung der Originalquellen als falsch. Man neigt daher zur Vorsicht, wenn wieder ein neuentdecktes Schubert-Haus vorgestellt wird. Nödls Überlegungen sind oft getränkt von begeistertem Wunschdenken und der Autor läßt sich nur allzu oft dazu verleiten, Hypothesen als erwiesene Tatsachen zu präsentieren. Es ist zwar wahrscheinlich, daß die bewußte Serenade am Vorabend des Geburtstags der Braut am 7. August 1828 stattfand, aber an diesem Tag hatte es geregnet und der Abend war mit 15° C etwas kühl. Auch steht keineswegs fest, daß Cramolini damals Schuberts Lied "Ständchen" zur Uraufführung brachte. Ob eine nette Idee schon für eine bereits am ehemaligen Sommersitz der Familie Pernold prangende Gedenktafel ausreicht, ist doch fraglich.

 

Bei der Suche nach dem Haus, in welchem Cramolini im Sommer 1828 mit Schubert seine Lieder probte, stieß Nödl auf einen mit 1830 datierten Konskriptionsbogen des Hauses Wieden 798 (IV. Rechte Wienzeile 15). Um eine Schubertstätte zu "identifizieren" und Cramolini schon im Jahr 1828 dort wohnhaft zu machen, nimmt Nödl an, daß die Umnummerierung der Wieden im Jahr 1830 schon zwei Jahre zuvor begonnen habe. Diese völlig unhaltbare Hypothese reicht nicht für eine positive Identifikation dieses Hauses als Schubertstätte aus. Als Cramolini im Mai 1828 einen Paß nach München beantragte, wurde seine Wohnadresse im Paßprotokoll mit "Stadt 1100" angegeben. Weil es nicht in sein Szenario paßt, erklärt Nödl diese Eintragung kurzerhand für einen Irrtum des Beamten. So wird der Leser in für dieses Buch symptomatischer Weise durch Suggestion in die erwünschte Richtung geleitet. Von: "Das alte Haus an der Wien - die gesuchte Schubertstätte?" (S. 75) ist es nur ein kleiner Schritt zu: "Hier also, im Haus "Zum Rothen Adler" fanden die Proben mit Franz Schubert [...] statt" (S. 78). Zur Erhellung dieser Frage hätten zumindest die erhaltenen Zinsbücher des Bürgerspitalszinshauses konsultiert werden müssen.

 

Ausgesprochen willkürlich verfährt Nödl bei der Zuordnung von Franz Schuberts Miniaturporträt aus dem Nachlaß von Franz Gießriegel, das sich in der Gedenkstätte Atzenbrugg befindet. Diese Miniatur wird als zeitgenössisches Werk des Malers Johann Kramolini vorgestellt, wobei die Signatur verkehrt gelesen werden muß, um das erwünschte "J. K." zu ergeben. Hat der Maler sein Werk von außen signiert, kann die Signatur ebenso "K. L." lauten. Es ist offensichtlich, daß dieses Bild mit den beiden anderen im Buch abgebildeten Werken Cramolinis nichts außer das kleine Format gemeinsam hat. Mit wenig stichhaltigen Argumenten versucht uns der Autor davon zu überzeugen, daß dieses Porträt als der Vorgänger des späten Ölgemäldes von August Wilhelm Rieder anzusehen sei. Die Chronologie ist aber umgekehrt: diese Miniatur ist ein erst nach 1875 entstandenes und von Rieders Schubert-Porträt inspiriertes Werk eines anonymen Dilettanten.

 

Ein paar ins Auge springende Details seien noch genannt: Nödl stellt eine rhetorische Frage nach der Identität der Lehrer der Brüder Kramolini an der k. k. Akademie (S. 83), es wäre aber leicht möglich gewesen, deren Namen ausfindig zu machen. Joseph von Pernold wurde nicht in Wien, sondern in Korneuburg geboren und der (nicht genannte) Geburtsort seiner Gattin war Prag. Friedrich Kappus von Pichelstein der Ältere wurde nicht 1733, sondern 1773 geboren. In der Transkription der Trauungseintragung des Brautpaars Kappus von Pichelstein fehlen (wie schon in Nödls Aufsatz von 1999) noch immer die Trauzeugen. Es wäre doch interessant gewesen, "in konsequenter Forschung" auch etwas über den Niederösterreichischen Appellationsrat Ferdinand Huber und den Doktor der Medizin Joseph Mautner herauszufinden. Die Taufpatin der 1829 geborenen Bertha Kappus von Pichelstein war nicht eine "Edle von Moser", sondern Maria Elisabeth von Mößle, die Witwe des bekannten Buchhändlers Johann Georg von Mößle. Heinrich Cramolini wohnte 1880 nicht im Haus Bösendorferstraße 7, sondern auf der Wieden, in der Alleegasse 75. In Josef Danhausers Gemälde "Der Prasser" von 1836 ist uns ein schönes Portrait des Malers Eduard Cramolini erhalten. Leider wird dieses Bild von Nödl nicht erwähnt. Und Ferdinand Graf Pálffy wäre wohl über das kuriose Attribut "von Eröd", das wir schon aus einem früheren Buch Nödls kennen, wenig erfreut gewesen. Das sind aber nur kleine Schönheitsfehler, die dem sehr gefälligen Äußeren dieses Buches keinen Abbruch tun.

 


© Michael Lorenz 2001. Erschienen in: Schubert durch die Brille 27, Schneider, Tutzing 2001.                           


Postskriptum (Mai 2025)

Mittlerweile wurde durch eine Eintragung auf einem Konskriptionsbogen (WStLA, Konskriptionsamt, Stadt 1100/176v) bewiesen, dass Ludwig Cramolini im Jahr 1828 doch im Bürgerspitalzinshaus wohnte und das Haus Wieden 798 (Rechte Wienzeile 15) – wie schon 2001 von mir vermutet – keine Schubertstätte ist. Der Beamte des Konskriptionsamtes irrte sich im Mai 1828 bei der Ausstellung des Passes für Ludwig Cramolini nicht (wie Nödl kurzerhand behauptete, als eine Quelle seinen Wunschvorstellungen widersprach). Der Sänger Ludwig Cramolini nahm nicht an der Serenade in Nußdorf teil, denn er befand sich im August 1828 in Berlin (Allgemeine musikalische Zeitung, 20. August 1828, Sp. 558). Am 2. Mai 1828 erhielt er eine Pass für eine Dauer von sechs Monaten nach München (WStLA, Konskriptionsamt B4/14, fol. 162), der nicht nur einem "Gastspiel" (wie Nödl ins Blaue hinein behauptete), sondern einer Tournee diente, und der am 24. November 1828 um ein Jahr "nach Berlin und die deutschen Bundesstaaten" verlängert wurde (WStLA, Konskriptionsamt B4/15, fol. 18). Nödl wusste von dieser Passausstellung und er wusste auch, dass die Hofoper von 1. Mai 1828 bis 6. Jänner 1829 geschlossen war. Cramolini konnte es sich gar nicht leisten, diese Schließzeit nicht zu einer Tournee im Ausland zu nützen. Nödl hatte nicht eine einzige Quelle, die bewies, dass Cramolini im Jahr 1828 im Haus Wieden 798 wohnte. Nödl wurde nicht Opfer eines unschuldigen Irrtums. Er wurde Opfer geradezu kindlichen Wunschdenkens, grober Quellenunkenntnis und banaler Faulheit, als er es unterließ, die Konskriptionsbögen und Zinsbücher des Bürgerspitalzinshauses nach Ludwig Cramolini zu durchsuchen.